„Durch in zweidimensionale Formen umwandelte Gedanken, meine Hand von der Intuition geleitet, verkörpert sich unter deiner Haut das Endlose.“

Ist es etwa nur eine Frage der Entscheidung, nach welchen Prinzipien wir unser Leben leben? Oder ist es möglich, dass all dies bereits bei der Empfängnis in unseren Genen kodiert existiert und sich unsere spätere Weltanschauung, welche unsere Taten und Glaubenswelten steuert, daraus entwickelt?

Zum Teil ist es zweifellos prädestiniert, in welche Richtung wir uns orientieren, wofür wir uns interessieren, welche Stücke der Torte des Lebens wir als Beruf, als Berufung auswählen, um mit Hilfe dieser Berufung unseren Weg zu gehen und wir die zu unserer persönlichen Entwicklung nötigen Erfahrungen sammeln.  

Das Ziel ist das Gleiche, nur die Wege, die zu diesem Ziel führen, sind unterschiedlich, je nachdem, ob man sein Gehalt mit körperlicher Arbeit, als Diplomingenieur oder eben als Tätowier-Künstler verdient.  Das Tor zur Vollkommenheit kann man auf jedem dieser Wege erreichen. Aber persönliche Erfahrungen können wir ausschließlich auf dem von uns gewählten Weg sammeln und aus diesen bei der Entwicklung unserer Persönlichkeit profitieren. 

Otte Timár wandte sich vor zwei Jahrzehnten auf Rat einer ihm nahestehenden Person zum Tätowieren hin. Diese Entscheidung bestimmte für ein Leben, aus welchen Bereichen er seine Erfahrungen sammeln kann.

Otte Timar

Otte Timar

„Das Ziel des Alchemisten ist es, das Material zu vergeistigen. Rudolf Steiner sagt, was zählt, ist nicht das, was du malst, sondern das, woran du während des Schaffens denkst, welche Gefühle dich erfüllen, bis du das Bild auf der Leinwand zum Leben erweckt hast.   Über die Zeit entwickelte sich das Tätowieren für mich zu einer Art magischen Übung.  Auf der physischen Ebene gerät Tinte unter die Haut, auf der geistigen Ebene entspringt die Idee. Dazu ist eine Art Verknüpfung nötig. Dies entspringt im Überirdischen und wird dadurch manifestiert, dass wir uns auf der Ebene des Geistlichen mit dem Kunden verbinden. Wir versuchen, die Vorstellungen, die Weltanschauung des Kunden grafisch, in zweidimensionaler Form abzubilden. 


Im Laufe unserer Arbeit wird das Unendliche verkörpert.  Dabei denke ich an das Unendliche des Geistes.  Diese seelische Verknüpfung ist unumgänglich, da sie das Bildwerden eines bestimmten Gefühls ermöglicht. Auf der einen Seite die Frage, welche Gefühle in mir, im Schöpfenden entstehen und andererseits das Gefühl, wie mein Kunde/meine Kundin den gegenseitigen Prozess erlebt. Ich finde es wichtig, dass das Tätowieren, genau wie in der Urzeit, wieder seinen Platz unter den rituellen Künsten findet. Ich bin mit dem konsumorientierten Tätowieren, bei dem das Spirituelle fehlt, nicht einverstanden. Meiner Meinung nach müssen sich beide Parteien für diese „Einweihung“ vorbereiten. Der Kunde muss sich seelisch, in Gedanken und auch körperlich vorbereiten, da es sich um einen schmerzhaften Eingriff handelt.  Wir Tätowierer müssen uns in einen entsprechenden seelischen Zustand versetzen, um das Werk verrichten zu können. Wir müssen uns auf das Thema einstimmen, damit der Energieabdruck, den wir auf der Haut des Kunden oder der Kundin hinterlassen, einen echten Wert darstellt. Diese Art der Einstimmung müsste jeder Tätowierer jahrzehntelang lernen und vervollkommnen.  Man kann es natürlich auch intuitiv gut machen, aber wenn es einem nicht aus dem Stehgreif gelingt, sollte man es doch lernen.


Jede(r), der/die an einer Thai-Massage schon mal teilgenommen hat, weiß, wovon ich rede.  Es ist wohl bekannt, dass die Kulturen im Fernen Osten viel offener für Spiritualität sind, als die westlichen, materiell orientierten Gesellschaften. Wir hier in Ungarn haben das Glück dank unserer geografischen Lage irgendwo zwischen den zwei Welten, zwischen zwei Standpunkten zu sein.  Ungarn sind dazu fähig, sich für die spirituelle Denkweise zu öffnen, aber gleichzeitig verstehen sie auch die Bemühungen des Westens nach Komfort.

Vor Beginn jeder Massage legen Thai-Masseure ihre offenen Handflächen aneinander, schließen die Augen und beten für einen Segen für die Tätigkeit, die sie gerade dabei sind, zu beginnen.  Sie drücken damit ihre Demut gegenüber dem Gast und der zu verrichtenden Aufgabe aus.


Ich habe all dies beim Tätowieren umgesetzt, indem ich vor jeder Arbeit meine Gäste um Erlaubnis bitte, die Arbeit anfangen zu dürfen. Danach lege ich beide Hände auf das auf die Haut gelegte Indigo, schließe die Augen und warte in einer Art meditativem Zustand, bis ich das Bild der fertigen Tätowierung vor mir sehe. Ich warte, bis das BILD in meiner EinBILDung erscheint.  Ich warte, bis ich mir ein BILD dessen schaffen kann, was ich schaffen möchte und dass ich dazu FÄHIG werde, dies auszuführen, dies zu schaffen.  Wenn es kein BILD gibt, werde ich zur Ausführung der Aufgabe auch nicht fähig sein. Im Bild liegen die Kraft und der versteckte spirituelle Inhalt.

In dieser Phase warte ich immer solange, bis dieses innere Bild sich soweit kristallisiert hat, dass ich es ganz klar vor meinen Augen sehe.  Aber all dies existiert zu diesem Zeitpunkt weiterhin nur auf der geistigen Ebene. Dies trage ich in die Astralwelt, auf die seelische Ebene, indem ich ein Gefühl damit verknüpfe.  Ich kann die Freude meines Kunden/meiner Kundin mitfühlen, welche er oder sie fühlt, wenn er/sie die fertige Tätowierung im Spiegel erblickt.  Mit meiner Fantasie kann ich mir das Gefühl und das Bild des Klienten/der Klientin vorlegen, wie er/sie zum Spiegel geht, das Tattoo erblickt und liebt, was er/sie im Spiegel sieht. Dies macht mich glücklich und für einen Moment kann ich dieses Glück mitempfinden. Und in diesem Augenblick wird die seelische Ebene durch die erlebten Gefühle mit der materiellen Welt verknüpft. Dadurch wird das Tattoo genau zu dem, was der Klient oder die Klientin erträumt hatte.   Von diesem Moment an höre ich Musik oder plaudere oder singe, je nachdem, in was für einer Laune ich mich befinde, aber bewusst befasse ich mich mit dem Muster nicht mehr.  Mein Verstand folgt dem Bild, das in meiner Fantasie lebt, genau wie wenn man die GPS-Koordinaten in das Navigationsgerät eingibt. Alles andere läuft von selbst.  Ich verbrenne kein bisschen Energie, um mir darüber Gedanken zu machen, was ich hätte tun sollen.  Zu diesem Zeitpunkt denke ich nicht einmal darüber nach, welche Farben ich benutzen soll. Ich greife automatisch zu der Farbe, die zum gegebenen Teil am besten passt und fülle diese automatisch ein.  Hier arbeitet nur noch die Seele, die Hand folgt ihr einfach.

Natürlich zwinge ich keinem meiner Gäste meine Vorstellungen auf.  Ich gebe von meiner Fantasie nur so viel an den Kunden / die Kundin weiter, wie viel er/sie offen und bereit ist, entgegenzunehmen. Dies fühlt man gleich, wenn man jemanden trifft. Unabhängig von den Umständen führe ich mein kurzes Ritual in ein paar Minuten aus, aber ich akzeptiere, dass nicht jeder Gast für sowas empfänglich ist. Trotzdem gefällt es den Menschen in den meisten Fällen. Sie sehen die Demut in diesem Ritual. Ich bemühe mich wirklich, passiver Teilnehmer des gemeinsamen Prozesses zu bleiben, der Tätowierung genannt wird.


Ich muss auch sagen, dass ich das Ganze nicht allzu ernst nehme. Damit du siehst, wovon ich rede: in letzter Zeit lache ich über meine Idee, nämlich, dass ich das Lidocain-Spray in ein kleines Behältnis umfüllen werde, dessen Form der streitkolbenmäßigen Form des Aspergills ähnelt, also der Form des Sprengwedels, mit welchem der Pfarrer den Segen erteilt. Und genauso werde ich das Lidocain-Spray benutzen. Sowas meine ich in der Regel nicht ernst, ich mache oder sage es nur zum Spaß.

Natürlich sprechen wir hier von Wissen aus Erfahrung, ich habe 20 Jahre gebraucht, um dieses Wissen und diese Erfahrung zu erlangen. Auf meine eigene Art und Weise halte ich an meinen eigenen Bräuchen fest.

Ich bin keinesfalls ein besessener Esoteriker, besser noch, ich halte mich überhaupt nicht für eine esoterische Figur. Ich kann jedoch nicht leugnen, dass eine Art spirituelle Sichtweise mich seit meiner Geburt begleitet. Am Anfang war es nur intuitives Dasein, seit einer bestimmten Zeit jedoch ist es in meinem Leben als bewusste Einstimmung anwesend. Wie die Jahre vergehen, wird es dir im optimalen Falle klar, wie die Welt um dich herum tickt. Dass es Gesetzte gibt, laut welchen alles, was du je in Gang gesetzt hast, auf dich zurückkommen wird. Sei es ein Gedanke, ein Satz, eine Tat, du wirst es, eventuell nur in Jahren, aber du wirst es ganz bestimmt zurückbekommen. Sobald dir all dies bewusst wird, kannst du anfangen, dieses Wissen auch im Alltag umzusetzen und zu benutzen. Und du wirst sehen, dass es auch in der Praxis funktioniert. In letzter Zeit habe ich mich eingehend mit Selbsterkenntnis befasst und ich gewinne einen immer tieferen Einblick in diese Muster. Ich bin ohne jegliche Religion oder definierbare Philosophie zu diesen Erkenntnissen gekommen. Es ist eher das Ergebnis der unkonventionellen Suche nach dem eigenen Weg. Man kann das seelische Leid loswerden, man muss nur die voneinander abgegrenzten Begriffssysteme von Gut und Böse in seinem Verstand auflösen.  Es gibt kein Gut und Böse, es gibt lediglich unterschiedliche Ereignisse, die uns widerfahren. 

Zu diesen Erkenntnissen bin ich in langen Jahren gekommen und es hat sich in meinem Leben so ergeben, dass ich alles, was mich zu diesen Erkenntnissen brachte, durch das Tätowieren kennenlernte.

In der zweiten Hälfte der 90er Jahre lebte ich mit meinen Eltern in Rácalmás, in der Nähe von Dunaújváros.  Als sich der Mittelschulabschluss näherte, bekam ich von Seiten der Eltern Druck zu spüren, dass ich mir Gedanken machen soll, was aus mir wird, was ich in der Zukunft machen möchte. In seiner Jugend diente mein Vater als Marineoffizier und er wünschte sich einen anständigen Job für mich.  Seinen Vorstellungen nach hätte ich als Erwachsener Ingenieur oder jemand werden sollen, der in seinem Beruf eine von der Gesellschaft anerkannte Arbeit verrichtet. Dazu kommt noch, dass ich in der Schule, die ich damals besuchte, zu einem Drei-Schichten-Job im Eisenwerk neben der Drechslerbank verdammt gewesen wäre. Ich jedoch hatte andere Vorstellungen. Da der Lehrstoff mich absolut nicht fesselte, fertigte ich während des Unterrichts meistens am Rande meines Heftes Skizzen an. Eine meiner Schwestern, die seitdem eine bekannte Keramikerin geworden ist, wurde darauf aufmerksam und fragte mich, ob ich schon daran gedacht hätte, Tätowierer zu werden. Bis dahin hatte ich absolut keinen Bezug zum Tätowieren. Nicht einmal in Gedanken hatte ich daran gedacht. Höchstens nur insoweit, dass ich ein Fan von Guns ‚N’ Roses war und ich wusste, dass diese Kerle volltätowiert sind. Aber ich habe nie daran gedacht, dass ich selbst Tattoos tragen oder gar Tattoos für andere anfertigen könnte. Das war im Jahre 1998. Ein Bekannter meiner Schwester hieß Norbi Beke, er war der Inhaber des Poppy Puppies Tattoo in Budapest in der Nähe des Hotel Astoria. (Auch dich habe ich bei Norbi zum ersten Mal getroffen, als du gekommen warst, die Bilder abzuholen, welche ihr später im Tattoo Magazin veröffentlicht habt.)

Meine Schwester hatte mit Norbi besprochen, damit er mir erlaubte, an den Wochenenden, sobald mein wöchentliches Schulpensum vorbei war, neben ihm zu sitzen und ihn zu beobachten, ihm bei der Arbeit zuzuschauen.  Norbi hat mich nie unterrichtet, aber er hatte mir, für diese Zeit völlig untypisch, erlaubt sein Wissen zu abzuschauen.

Mir hatte es gefallen, wie locker es im Studio immer zuging.  Der Korporal, der damals einzige Lieferant für Tattoo-Ausrüstungen in Budapest, war ein oft gesehener Gast bei ihm.  Er und seine Freunde vertrieben sich die Zeit immer bei Norbi, sie haben getrunken und es gab immer Ärger, da Norbi nicht wollte, dass sie im Geschäft trinken, aber sie waren trotzdem gut befreundet. 

Wie ich sie da beobachtete, dachte ich immer daran, dass es wirklich dieses Leben gibt, wo dies die Probleme des Alltags sind…

Wenn ich auf diese Zeit zurückblicke, finde ich, dass Norbi ein guter Meister war. Ich bin der Meinung, dass der erste Eindruck, wer dich in ein gewisses Wissen einführt, sehr wichtig ist. Ich bin Norbi Beke sehr dankbar. Ich weiß, dass ich meine technische Präzision dem zu verdanken habe, was ich in dieser ersten Zeit von ihm erlernte.  Die pfeilgeraden Linien von Norbi Beke, die er mit einer 1-er Nadel zog, konnte und kann wahrscheinlich auch heute noch keiner übertreffen.


Meine erste Ausrüstung kaufte ich vom Korporal. Ich habe erst später erfahren, dass die Maschine trotz der von ihm erhaltenen Informationen keine Weltmarke, sondern eine in Ungarn, in Csepel angefertigte war.  Trotzdem arbeitete sie gut. Etwa ein Jahr lang besuchte ich Norbi regelmäßig.  Als ich das Gefühl hatte, dass ich bereits auch selbständig hätte tätowieren können, sah ich mich mit dem Fakt konfrontiert, dass ich für die Ausrüstung nicht aufkommen kann.   Daher arbeitete ich als Zaunbauer am Hungaroring. Unsere Aufgabe war es, die deutschen Touristen vom Ring fernzuhalten, die andauernd auf die Stage sprangen. Mit diesem Job verdiente ich täglich 3500,- Forint.  Über den ganzen Sommer habe ich nur gespart, um die Ausrüstung, die Maschine mit einem Trafo und mit einigen Griffen sowie mit Nadel vom Korporal kaufen zu können.  Aber mir war nicht einmal bewusst, dass man die Nadel schweißen muss. Ich war kaum mit Informationen versehen, alles, was ich wusste, sammelte ich während der Zeit im Studio. Wie bereits erwähnt, setzte sich Norbi nie mit mir hin, um mir zu erklären, was, wie funktioniert.  Wenn ich fragte, antwortete er, aber ich musste mich damit zufriedenstellen.

Er war ja kein kommunikativer Typ. Er mochte die Menschen nicht besonders und besonders nicht, wenn sie Fragen stellten. Er hatte einen legendären Spruch. Wenn er mal nicht tätowierte, saß er meistens an seinem Schreibtisch, den Rücken zur Eingangstür. Damals kam es oft vor, dass Menschen von der Straße ins Geschäft einkehrten, weil sie irgendetwas in Bezug aufs Tätowieren fragen wollten. Ich erinnere mich an eine Szene, die sich mehrmals wiederholt abspielte, jedesmal mit anderen Teilnehmern.  Es stehen zwei verlegene Jungs in der Tür.  Sie versuchen zu Norbis Rücken zu sprechen: Entschuldige, können wir dich etwas fragen? Norbi dreht sich um, schaut sie trocken an und sagt: Entschuldigt mich bitte, aber warum verpisst ihr euch denn nicht?

Ich respektiere Norbi wirklich, aber man versteht jetzt wohl, warum ich mich, abgesehen von den Grundlagen, völlig autodidaktisch weiterbilden musste. 

Damals äußerten sich die meisten Menschen in meiner Umgebung skeptisch darüber, dass ich Tätowierer sein möchte. Sie wiederholten ununterbrochen, dass dies nur ein Trend sei, Mode und dass es abklingen wird und dann werde ich ohne Job dastehen. Sie hielten Tätowierung für eine Arbeit der Penner. Ich jedoch sah bereits zu dieser Zeit, dass finanzielles Potential darin steckte.  Trotzdem war für mich damals gar nicht maßgebend, gar nicht im Fokus, wie viel man mit Tätowieren verdienen kann. Dieser Aspekt wurde erst später wichtig, als man anfängt, sich selbst und seine Aufgaben ernst zu nehmen. Meine nachlässige Einstellung sicherte mir am Anfang eine Art Gewichtslosigkeit. Diese Gewichtslosigkeit und die Tatsache, dass ich alle Aufträge annahm, ohne über die finanzielle Kompensation nachzudenken, halfen mir, die Grundlage für meine Technik zu schaffen.  


Als ich in Dunaújváros anfing, Tattoos anzufertigen, verkündete ich, die ersten zehn Bewerber gratis zu stechen. In der Wohnsiedlung verbreiteten sich schnell die Nachrichten, dass „er gut zeichnen kann und auch h eine echte Maschine hat!“ Das war damals eine große Sache, da die meisten zu dieser Zeit mit von Walkman-Motoren getriebenen Maschinen arbeiteten. Mein Werbetrick rentierte sich: Die ersten 10 Gratis-Kunden lieferten mir weitere Interessanten.  Der Prozess kam in Gang und immer mehr Menschen suchten mich für Tattoos auf. 

Aber ich fand es weiterhin schwer, Geld für die Tattoos zu verlangen. Diese „Krankheit“ ist unter Tätowierern, die ihre Arbeit wirklich lieben, wohl bekannt. Wenn du die Maschine in die Hand nimmst und machen kannst, was du auch sonst gerne tust, dann verstehst du nicht, warum andere dir für etwas bezahlen sollten, was du ja zu deiner eigenen Freude machst. Dies führte öfters dazu, dass ich am Ende kein Geld für Farbe hatte. Ich musste von meinen Eltern Geld borgen, um mit dem nächsten Auftrag beginnen zu können.  Damals konnte ich noch nicht beweisen, was ich meinen Eltern gerne bewiesen hätte, nämlich, dass ich eine gute Entscheidung traf, als ich Tätowierer wurde.


Es folgte mein erster, mit Tätowieren verbrachter Sommer am Plattensee im Jahre 2000, in Balatonfüred bei Ákos Medve im Manitou Tattoo.  Er war der erste Schlagzeuger der Band Quimby. Das Manitou Tattoo zählte zu einem echten Rock-and-Roll-Studio und war unglaublich stark frequentiert. In diesem Sommer gewann ich sehr viel Routine. Es gab Tage, an denen ich 14 Tattoos anfertigte, eines nach dem anderen, ab 10 Uhr am Vormittag bis 4 Uhr in der Früh am nächsten Tag. Linien ziehen, ausfüllen. Zum Hochsommer konnte ich es bereits mit geschlossenen Augen durchführen. Und endlich verdiente ich Geld. Ich fing an, mich als echter Tätowierer zu fühlen. Damals war es unvorstellbar, sich nur auf einen Stil zu spezialisieren. Man musste jeden Auftrag annehmen, aber diese Zeit sicherte gute fachliche Grundlagen für zukünftige, kompliziertere Arbeiten.

Auch den folgenden Sommer verbrachten wir mit Ákos zusammen, aber bereits im gemeinsamen Geschäft in Tihany. Diese Saison war jedoch weniger erfolgreich wie die vor einem Jahr. Über Ákos sollte man wissen, dass er auch für die echten Partyleute der Band Quimby ein zu wilder Partygänger war. Wenn ich mich richtig erinnere, verabschiedete sich die Band aus diesem Grund von ihm. Und auch ich spürte, dass ich mit diesem Lebensstil langfristig nicht mithalten kann und will, meine langfristigen Pläne bezüglich des Tätowierens am Plattensee lösten sich daher bald auf.  


Nach drei Jahren Arbeit als Tätowierer fand ich mich wieder am Zaunbauen, diesmal in der Puszta (Hortobágy), wo wir für Mangalica-Schweine ein größeres Gelände eingezäunt hatten. 

Ich erinnere mich noch ganz genau, es war Sonnenuntergang, ich war gerade dabei, den Draht zu verknoten, als mein Handy klingelte.  Attila Pál war dran und er sagte, man suche Tätowierer in Deutschland. Er arbeitete ebenfalls als Tätowierer und war Gitarrist der Band „Szlogen“. 

Einige Wochen später war ich bereits - eigentlich als erster ungarischer Tätowierer - auf dem Weg nach Leipzig. Damals war es unter uns noch nicht üblich in den Westen zu reisen, um dort zu arbeiten. Später gaben ungarische Tätowierer einander die Türklinke in die Hand, aber ich war der erste, der eine ganze Gruppe, mindestens 6 Menschen, vom Plattensee in den Westen brachte.

In diesen Jahren wohnten wir - nicht selten bis zu 8 Personen - auf 35 m2. Wenn man ins Bad wollte, musste man sich anstellen. Aber wir haben die ganze Zeit nur gelacht…

Ich arbeitete drei Jahre lang im selben Geschäft und kam aller sechs Wochen nach Hause.  Nach diesen drei Jahren fand ich mich, auch für mich selbst unerwartet, in Kroatien.


In Deutschland hatten wir ein stabiles Einkommen. Wir erhielten für nonfigurative Tattoos an der Hüfte und für Sternenmuster das Mehrfache des damals Üblichen in Ungarn, obwohl der Geschäftsführer uns nur 6-7 Prozent des von uns generierten Einkommens weitergab.


Als ich nach sechs Wochen Aufenthalt im Ausland wieder heimkehrte, konnte ich meine ungarischen Gästen endlich mit Tattoos stechen, welche ich immer schon verwirklichen wollte. Damals erschien unter meinen Arbeiten die Mark-Ryden-Linie, eine Art auf die Haut übertragene Stilrichtung. 

In Rácalmás hatten meine Eltern einen Teil des Hauses umgebaut, damit ich es als Studio benutzen konnte. Während der in Ungarn verbrachten Zeit arbeitete ich in diesem Studio, in vollkommener Ruhe.


Als ich einmal im Sommer in Trogir auf Urlaub war, traf mich die Erkenntnis wie ein Blitz, dass ich dort weitermachen werde. Seit meiner Kindheit liebte ich Geschichte. Béla IV. war ebenfalls durch diese schmalen Straßen spaziert. Die alten Häuser stehen auch heute noch genauso da, wie zu seiner Zeit. Mein Studio eröffnete ich in einem 400 Jahre alten Haus, ein Bekannter von mir wohnte in einem 800 Jahre alten Haus. Wenn du in Trogir die Mauer der Häuser berührst, dann fließt, ähnlich dem Informationsfluss im Kinohit Matrix, die Geschichte in dich aus diesen Wänden. Ich sprach kein einziges Wort Kroatisch, gründete in der Kürze jedoch eine Firma und im Jahre 2003 mietete ich die bereits erwähnte Wohnung für mein Studio.


Im Stadtzentrum, am Platz mit den vier Palmen und den Eissalons hatte ich den richtigen Ort im zweiten Stock des 400 Jahre alten Hauses gefunden. Der Eingang befand sich unter einem wunderschönen, aus Stein gemetzten Rundbogen. Es sprach sich schnell herum, wer da in den zweiten Stock eingezogen war. Einer der Nachbarn suchte mich einige Tage später auf und er meinte, ich werde der nächste Bürgermeister, da jeder in der Stadt über mich redete. Die älteren Damen besuchten die Kirche öfter als zuvor und warfen wie wild ihre Münzen in den Klingelbeutel, da sie überzeugt waren, der Satan sei nach Trogir gezogen.


Außer mir gab es nur in Split einen Tätowierer, aber von dem wusste ich, dass er grundschlechte Qualität lieferte.  

Das Geschäft lief gut, ich tätowierte überwiegend die Einwohner des Ortes, in der Saison auch Touristen. Es war Sommer, wir lebten ein sorgenloses Leben. Ich und mein Freund, Zoli Zona, gaben alles Geld, das wir verdienten, für Essen und Trinken aus. 

Wenn ich mal alt werde und auf die Jahre als Tätowierer zurückblicken werde, werden die in Kroatien verbrachten Sommer zu meinen schönsten Erinnerungen gehören.

Im Herbst 2006 war ich wieder zu Hause in Ungarn, dann folgte wieder Deutschland. 


Man fing an, meine Arbeit auch in fachlichen Kreisen und international anzuerkennen. Bei der Berlin Tattoo Convention errang ich mit meiner grau-schwarzen Pietà-Abbildung den ersten Preis vor Robert Hernandez, der den zweiten Platz erhielt. In diesen Jahren holte ich bei verschiedenen Veranstaltungen mehrere Male den zweiten und den dritten Platz. Etwas später, im Jahre 2012, bei der ersten Convention in London, wurde ich Dritter bei einem der „Best of the Day“ Wettbewerbe. Jeder weiß, dass die Convention in London als die Créme de la Creme aller Conventions gilt. 

Auch bei den deutschen Magazinen wurde ich gefragt, alles zeigte also in die Richtung, dass ich die deutsche Linie verstärken sollte.

 

Inzwischen unternahm ich eine Rundreise nach Spanien, damals lebte ich absolut „random“. Ich dachte mir aus, in welches Land ich reisen möchte. Ich verschickte mein Portfolio an einige Adressen und eine Woche später war ich dort und arbeitete.


Damals lernte ich meine Frau kennen. Genauer gesagt kannten Márti und ich uns bereits seit der Mittelschule, aber ich kam erst zu diesem Zeitpunkt und dank des damaligen ungarischen sozialen Netzwerkes „iwiw“ in ihr Blickfeld.   Sie arbeitete in Südtirol neben einer Skipiste in einer Hütte. Wir machten ein Treffen aus und bereits beim zweiten Treffen zogen wir zusammen. Unsere Beziehung hing von ihrer Rückkehr nach Norditalien ab. Sie entschied sich für mich und dafür, sich mir anzuvertrauen. Ich habe alles versucht, damit sie ihre Entscheidung nicht bereut. 


Etwas später fuhr ich bereits mit James regelmäßig nach Schweinfurt, ins Art’n Style.  Auch Márti war mit dabei. Wir stachen überwiegend amerikanische Soldaten, bis sie in den Irak versetzt wurden. Plötzlich standen wir da, ohne Arbeit, obwohl wir einige Tage zuvor noch für Monate vollgebucht waren.

Wenn ich mich richtig erinnere, hat uns Csabi Müllner die Magic-Moon-Story empfohlen, so gelangten wir, alle drei, nach Erkelenz. Meine Frau arbeitete zu dieser Zeit als Dolmetscherin für uns. Dank ihrer Sprachkenntnisse hat sie am Anfang auch für James und für viele andere ungarische Tätowierer übersetzt. 

Mit Márti arbeiteten wir in vielen Studios in Deutschland, aber letztendlich war es aus mit dem Herumreisen. Wir entschieden uns für die Gründung einer Familie. Meine Frau blieb in Ungarn, im Jahre 2012 kam Magor, vier Jahre später Temes zur Welt.


Wir zwei ergänzen uns blendend. Márti ist ein sehr genauer Mensch. Das Management meiner Klienten habe ich völlig ihr überlassen. Sie macht die Termine aus und löst alle Probleme, die im Zusammenhang mit den Kunden auftreten. Wir Tätowierer tauschen nicht unsere Arbeit oder unser Talent für Geld ein. Wir verkaufen eine Art Vertrauen, welches der Gast uns gegenüber fühlt, wenn er sich dafür entscheidet, dass wir mit entsprechender Fürsorge seine Tattoo-Träume verwirklichen dürfen. Man mag ein talentierter Künstler sein, aber wenn man unzuverlässig ist, z.B. wenn man sich nicht an festgelegte Termine hält oder in anderen Bereichen kein Verlass auf einen ist, wird man fachlich nicht mehr erreichen, als jemand, der weniger talentiert ist, aber genau und regelmäßig arbeitet.  Ich war immer dieser unkonventionelle Künstler-Typ. Alles, was an mir fehlte, wird von Márti vollkommen ergänzt. Sie beantwortet alle E-Mails schnell.  Dank ihr sind meine Termine auch auf ein Jahr im Voraus im Kalender eingetragen.  Sie weiß ganz genau, worum es in dieser Branche geht, sie kennt meine persönlichen fachlichen Bedürfnisse, daher ist sie so eine tolle Assistentin. 


Zur Zeit fahre ich regelmäßig in die Schweiz, um dort zu arbeiten. Mit meinem besten Freund, einem gebürtigen Schweizer, haben wir vor einigen Jahren ein gemeinsames Geschäft ins Leben gerufen, ein Studio auf 300 m2, in dem zurzeit 15 Tätowierer arbeiten, alles begabte ungarische Künstler.  Das Geschäft wurde von Anfang an auf meinen Arbeiten aufgebaut. Auch jetzt bin ich derjenige, der dafür sorgt, dass nur gute Tätowierer im Salon arbeiten und dass auch fachlich alles stimmt. Das ist eine echte Erfolgsgeschichte. 

Mein anderer Standort ist das Art Faktors in Essen, wo ich in erster Linie aus Prestige arbeite. Die Besten der Welt arbeiten dort.  Künstler wie Domantas Parvainis, Led Coult, Pavel Krim oder Valentina Ryabova und viele mehr. 

Ich liebe beide Salons und fühle mich an beiden Orten zu Hause. Ich pflege eine freundliche Beziehung zu den Inhabern, arbeite in einer fürsorglichen Umgebung. Nach fünfzehn als Gasttätowierer verbrachten Jahre weiß ich ganz genau, welche Umstände für eine ruhige und gute Arbeit nötig sind.   Zur Zeit fliege ich vier Mal im Monat in die Schweiz und nach Deutschland.


In Ungarn zogen wir vor einigen Jahren nach Visegrád, wo wir unser neues Zuhause gefunden haben. Vor Visegrád wohnten wir mit Márti im 3. Bezirk in Budapest, wo ich eine Wohnung mietete und mein Studio betrieb, aber wir träumten von geräumigeren Räumlichkeiten, von einem Garten und von wahren menschlichen Beziehungen. Ich surfte im Internet nach Häusern die zu verkaufen waren. Genau wie damals in Trogir, passierte es, dass im Anblick einer unerwarteten Möglichkeit mein Herz zu rasen begann. Das war, als ich die Anzeige unseren Hauses erblickte. Das Haus und das Tal, auf welches das Haus blickt, waren aus einem Winkel fotografiert, bei dessen Anblick ich sofort fühlte, dass dies der perfekte goldene Schnitt für mich war. Unser Haus blickt auf das Apátkúti-Tal, auf den botanischen Garten. Die Berge wachsen in der Ferne und wie sie einander decken, bieten sie perfekte Harmonie.  Es fühlt sich an, als ob ich mich schon immer nach diesem Ort gesehnt hätte.


In letzter Zeit unterrichte ich auch. Ich halte Webinare via Skype, man kann sie gegen einen bestimmten Preis buchen. Die Teilnehmeranzahl liegt meistens zwischen zehn und zwanzig. Das aktuelle Material wird in Form eines Konferenzgesprächs in 1,5 Stunden geschult. Ich beantworte alle fachlichen Fragen, die gestellt werden. Das Webinar bietet eine großartige interaktive Möglichkeit, die auch mir selbst Spaß macht.


Ich nehme auch an der Schulung der Budapester Tätowiererakademie (BTA) mit dem von mir zusammengestellten Videomaterial „Inkcontrol” teil. Dieses Videomaterial hilft den Teilnehmern dabei, bei Interesse am Tätowieren selbst entscheiden zu können, ob sie diesen Beruf zukünftig wirklich ausüben möchten. Wie ich sehe, schenkt den Anfängern niemand entsprechende Aufmerksamkeit, daher entscheiden sie selbst, ob sie mit Tätowieren beginnen. Sie bestellen sich im Internet die Starter-Ausrüstung und beginnen bereits Kunden zu stechen. Nach einigen anfänglichen Enttäuschungen verlassen viele den Beruf.    Inkcontrol hilft den Anfängern, sich bereits im Voraus ein Bild darüber machen zu können, welchen Anforderungen sie gerecht werden müssen, noch bevor sie eine Tätowiermaschine in die Hand nehmen. Damit werden sie entscheiden können, ob dieser Beruf wirklich etwas für sie ist, damit die fürchterlichen Muster, die Anfänger unvermeidbar erzeugen würden, niemand auf seiner oder ihrer Haut zu tragen braucht. 


In der BTA beginnt die Schulung mit meinem Material. 40 Videos werden mehrmals nacheinander abgespielt.   Dies bietet ein Grundwissen, welches man sich als Tätowierer aufmerksam aneignen sollte, da auch ganz viele ethische Fragen angesprochen werden.  Am Ende jedes Lehrganges unterrichte ich auch persönlich im Rahmen eines 2tägigen Meisterkurses, damit ich nicht nur als ein Geist aus dem Videomaterial bei den Studierenden in Erinnerung bleibe. So sehen sie, dass ich ein Mensch aus Fleisch und Blut bin.

Am ersten Tag tätowiere ich und sie schauen zu, am zweiten Tag tätowieren sie und ich sage ihnen meine Anmerkungen.


In Visegrád habe ich unlängst ein zentral gelegenes Studio gemietet, seitdem gibt es auch hier, zu Hause das Red Lion Tattoo, ein Ort, an dem ich meine Arbeit in aller Ruhe ausüben kann. Das ist mein kleines alchemistisches Labor.


Auch hier zu Hause werde ich zu 70% von ausländischen Gästen aufgesucht. Mit Visegrád habe ich Glück, weil es ein Touristenzentrum ist mit guten Übernachtungsmöglichkeiten und mit guten Restaurants. Meine ausländischen Gäste reservieren sich online die Übernachtungen, ein Fahrer holt sie vom Flughafen ab und schon sind sie in der Stadt.


„Red Lion“ ist kein Studio-Name, obwohl all meine Studios bisher diesen Namen trugen. Es widerspiegelt vielmehr eine Geisteshaltung. Der rote Löwe, das Elixier der Alchemisten, ist der Weg der Selbsterkenntnis. Er zeigt die innere Alchemie, meinen eigenen, inneren Weg, wie ich mich durch die Stationen meines bisherigen Lebens Schritt für Schritt meinen Zielen näherte. Durch das Tätowieren habe ich Menschen kennengelernt, verschiedene Situationen erlebt, aus welchen ich gelernt habe und auch heute noch lerne und mich inzwischen verändere.  Ich habe diesen Weg gewählt und dabei zahlreiche Impulse erlebt, die mir Anlass zur Selbsterkenntnis gaben. Der Red Lion ist das finale Ziel, das Elixier, der zu erreichende Zustand. Ich hoffe, ihn mal, vielleicht noch in diesem meinem Leben, verwirklichen zu können.”




Barna Bartha